Niemand kann sich das vorstellen“ – Wie ein Bestatter aus dem Harz Erdbebenopfer versorgt

Im Februar berichtete die Mitteldeutsche Zeitung vom Einsatz des Deathcare-Teams im Erdbebengebiet in der Türkei, an dem auch Bestatter Thomas Thieß beteiligt war.

 

Der Artikel:

NATURKATASTROPHE Ein Beben in der syrisch-türkischen Grenzregion hat Städte dem Erdboden gleichgemacht und Zehntausende in den Tod gerissen. Unter denHelfern vor Ort war ein Bestatter aus dem Harz. Was er erlebt hat und wie er damit umgeht.

VON MAX HUNGER

Als Thomas Thieß zum ersten Mal das Trümmerfeld betritt, das einst eine türkische Großstadt war, überwältigen ihn die Eindrücke. "Ich war sprachlos", sagt der 43-Jährige. Dort, wo einmal neunstöckige Wohnblöcke standen, türmt sich jetzt der Schutt. Betonsplitter, Kühlschränke, Autoteile. Dazwischen: Menschen. Viele von ihnen tot. Der Bestatter ist aus dem Harz in die 650.000-Einwohner-Metropole Kahramanmara? gereist, um Erdbebenopfer zu bergen. In den Tagen danach wird er mehr tote Menschen aus den Trümmern ziehen, als er zählen kann. "Niemand, der die Bilder aus dem Fernsehen kennt, kann sich das vorstellen", sagt Thieß. Bei ihm hat der Einsatz Spuren hinterlassen – allerdings nicht nur Spuren des Schreckens.

Als Teil eines 16-köpfigen Teams reist Thomas Thieß Mitte Februar in die Erdbebenregion in der Türkei. Ein schweres Beben erschütterte einige Tage zuvor das Grenzgebiet zu Syrien. Inzwischen zählen die Behörden hier über 45.000 Tote. Die Helfer des Vereins Deathcare – auf deutsch etwa "Totenfürsorge" – fliegen auf Einladung der türkischen Regierung in die Region. Denn der Verein hat ein nach eigenen Angaben einzigartiges Profil: Die Ehrenamtler sind auf die Bergung von Toten in Katastrophengebieten spezialisiert.

Stiefel statt Anzug

„Wir haben als Bestatter Erfahrung mit Verstorbenen“, sagt Thieß. Der Unternehmer hat für den Einsatz in der Türkei eine Woche lang seiner Bestattungsfirma in Thale den Rücken gekehrt, den schwarzen Anzug gegen blaue Einsatzkleidung getauscht.

Von Frankfurt (Main) über Istanbul fliegen die Helfer ins Erdbebengebiet. Vor Ort erschlägt den Harzer förmlich das Chaos: Die Stadt Kahramanmara? im Südosten des Landes hängt unter einer dicken Staubglocke. Kaum ein Haus steht noch. Trotz Maske sei ihm das Atmen schwer gefallen, erzählt Thieß. Brandgeruch sticht ihm in die Nase, Sirenen heulen, Menschen schreien durcheinander. Das Erdbeben hat viele Bewohner der Hochhäuser nachts überrascht. Sie hatten keine Chance zu fliehen. „In zwei Minuten war alles zerstört“, sagt Thieß. Mit Baggern und bloßen Händen graben die Helfer nun verzweifelt nach Überlebenden. Häufig sind die Stadtbewohner jedoch bereits tot. Dann kommen Thieß und seine Teamkollegen ins Spiel.

Die Deathcare-Mitglieder sind Bestatter, aber auch Gerichtsmediziner und Polizisten. Regelmäßig trainieren die Ehrenamtler die Bergung von Todesopfern im Rahmen von Katastrophenszenarien – etwa Flugzeugabstürzen oder Überflutungen. In der Türkei leisten sie laut Vereinssprecher Daniel Niemeyer praktische Hilfe: Sie bergen Tote aus den Trümmern, helfen bei deren Identifizierung – etwa über Fingerabdrücke –, dem Transport. „Die Bestatter in der Türkei waren ja teilweise selbst in Trauer“, sagt Niemeyer.

In der Türkei angekommen, errichten die deutschen Helfer zunächst eine Art Hauptquartier in einer Turnhalle. Hierher bringen sie die Toten, helfen bei der Identifizierung durch türkische Juristen und begleiten anschließend die Leichenwagen zu Friedhöfen im Umland. Bei minus drei Grad in der Nacht schlafen Thieß und seine Mitstreiter in Schlafsäcken. Eine Dusche? Gibt es nicht. Ohnehin haben die Helfer wenig Zeit. Bis zu 20 Stunden pro Tag seien sie im Einsatz gewesen, erzählt der Harzer. Auch nachts. „Kurz schlafen, dann weiter.“

"Stundenlang graben er und seine Teamkollegen mit Hacke und Schaufel in den Trümmern, bergen bis zu 300 Tote am Tag. Wird ein toter Mensch entdeckt, geht es laut Thieß darum, ihn mit Würde aus dem Schutt zu befreien. „Das findet ja oft unter den Augen der Angehörigen statt.“ Zunächst ein Laken als Sichtschutz, dann werden die Verstorbenen in Plastiksäcke gelegt. Der behutsame Umgang sei für die Angehörigen wichtig, aber auch den anderen Helfern habe man so eine Last abnehmen können. Vor allem eine psychische.

Helfer bergen 2.000 Tote

Denn die Zahl der Toten in der Stadt sei „immens“ gewesen, erinnert sich Thieß. Laut Deathcare übergeben zwei Teams aus Deutschland insgesamt etwa 2.000 Verstorbene an örtliche Bestatter. Für ungeschulte Menschen seien solche Anblicke mitunter schwer zu verkraften, sagt Thomas Thieß. Und wie geht es ihm selbst damit? „Man nimmt natürlich Bilder mit.“ Trotzdem: So leicht seien er und seine Kollegen nicht aus der Fassung zu bringen – der Umgang mit Toten ist schließlich ihr Beruf.

Am Anfang sorgt das Team bei einigen türkischen Helfern allerdings für Irritationen: Deutsche Bestatter? Hier? Warum? Schnell habe man ihre Arbeit jedoch zu schätzen gewusst, sagt Thieß. Mehr sogar, als er erwartet hat. Heute, einige Tage nach seiner Rückkehr, prägt vor allem ein Eindruck seine Erinnerungen an den Einsatz: Menschen, die Söhne, Töchter, Väter, Mütter und ihr Dach über dem Kopf verloren haben, hätten sich oft überschwänglich bedankt. „Was alle überrascht hat, ist die Herzlichkeit. Trotz der Lage.“ Für den 43-Jährigen und seine Kollegen ein klares Zeichen: Ihre Hilfe ist angekommen.

Aber es sind auch die Schicksale am Rande, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben: Da waren etwa drei kleine Mädchen. Allein harren sie eines Tages neben der Turnhalle aus, in der die Toten aufgebahrt werden. „Sie standen da bei Minusgraden, ohne Schuhe.“ Schließlich findet das Team über einen Dolmetscher heraus: Ihre Eltern sind beim Erdbeben ums Leben gekommen, liegen jetzt aufgebahrt in der Halle unter den Toten. Die Helfer organisieren nun Hilfe für die Kinder. „Solche Situationen gab es viele.“

Schutzhelm und Stiefel hat Thomas Thieß inzwischen abgelegt. Doch den Eindruck des Leids, aber auch der Dankbarkeit hat der Bestatter mit zurück in den Harz genommen. Seit dieser Woche arbeitet er wieder in Thale. Für ihn war es der erste Einsatz in einem Katastrophengebiet. Ob er es wieder tun würde? Die Antwort kommt prompt: „Auf jeden Fall.“

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Ehrenamtler helfen bei Katastrophen im Ausland

Der Verein „Deathcare“ hat sich auf die Bergung und Versorgung von Toten in Katastrophengebieten spezialisiert. Anlass der Gründung war ein Erdbeben in der Türkei im Jahr 1999. Anschließend waren die ehrenamtlichen Mitglieder unter anderem 2004 im Tsunamigebiet in Thailand im Einsatz. Heute zählt Deathcare 70 aktive Mitglieder sowie 70 Fördermitglieder. Je nach Situation vor Ort stellt der Verein aus Deutschland für die Einsätze Teams mit unterschiedlichen Spezialisten zusammen – etwa Ärzte, Bestatter und Dolmetscher.

Im Anschluss an das verheerende Erdbeben in der Türkei und Syrien Anfang Februar erschütterten zahlreiche weitere Beben die Region. Nach Angaben der örtlichen Behörden kamen bei einem davon in der Türkei weitere sechs Menschen schen ums Leben. Zudem wurden knapp 300 Menschen verletzt, davon 18 schwer. Auch Gebäude wurden beschädigt. Die Grenzregion in Syrien meldete ebenfalls Todesopfer durch ein Nachbeben.

Quelle: Max Hunger, Mitteldeutsche Zeitung, 23.02.2023.